Auf den ersten Blick ist A Normal Lost Phone nur ein cleveres Adventure, das vor allem dadurch besticht, dass seine komplette Benutzeroberfläche das Mobiltelefon eines Jugendlichen ist. Wer Musik auf diesem „ganz normalen gefundenen Handy“ hören will, öffnet einfach die entsprechende App und wählt einen der elf Songs, die an den Independent-Soundtrack von Life is Strange erinnern.
In der Galerie befinden sich Bilder des vorherigen Besitzers, des 18-jährigen Sam. Wer Nachrichten und E-Mails durchforstet, lernt seine Familie und Freunde sowie deren Probleme kennen. Man erfährt das Passwort des Netzwerk Zugangs, den Login eines Forums, einer Dating-App und mehr. Schön, dass man Texte hier tatsächlich lesen und die geforderten Angaben selbst eintippen muss, anstatt Lösungen nach dem zufälligen Aufschlagen einer Seite mit einem Klick automatisch einzutragen!
Roter Faden statt Alltagsleben
Doch warum hat Sam sein Handy eigentlich verloren? Aus welchem Grund hat er ohne Vorwarnung die Beziehung mit seiner Freundin beendet und wieso darf er sich nicht mehr mit einer Gruppe von Freunden treffen, die er zuvor jeden Sonntag gesehen hatte? Schritt für Schritt nähert man sich dem Grund, aus dem Sam am Tag seines Geburtstags offenbar spurlos verschwindet.
Schade, dass der Weg dorthin fast ausschließlich über das Lesen bereits auf dem Telefon vorhandener Inhalte führt; den kompletten Alltag eines Jugendlichen bildet das Entwickler-Studio Accidental Queens leider nicht ab. Man wühlt sich etwa nicht durch zahlreiche Webseiten, sondern ist lediglich in den wenigen Diskussionen eines einzigen Forums unterwegs, wo im Verlauf der Geschichte auch keine neuen Einträge hinzukommen. A Normal Lost Phone ist ein kleines und mit vielleicht zwei Stunden recht kurzes Spiel, das sich praktisch nur um sein zentrales Thema dreht.
Dieses Thema sowie die Art, mit der es sich ihm nähert, ist allerdings bemerkenswert. Und wer davon im Vorfeld nichts wissen will, sollte von hier aus zu unserem komplett spoilerfreien Fazit springen. Immerhin gehört dies zu den Rätseln, die man im Verlauf des Detektivspiels erst aufdeckt.
Ganz normal
A Normal Lost Phone richtet sich nicht nur an alle Jugendliche, sondern auch an Erwachsene – vor allem aber an solche, die sich ihrer sexuellen und Geschlechterzugehörigkeit unsicher sind. Ohne den Zeigefinger zu heben beschreibt es den Unterschied zwischen sozialem und biologischem Geschlecht. Es stellt Figuren vor, die vergleichbare Erfahrungen gesammelt haben wie Sam, weist darauf hin, dass nicht jedes Überschreiten der Geschlechtergrenzen mit Transgender oder Transsexualität zu tun hat und viel mehr.
Natürlich sind manche Nachrichten, die Sam erhält und schreibt, dabei als erklärende Texte erkennbar. Insgesamt beweist Accidental Queens aber ein ausgezeichnetes Gespür für authentische Erlebnisse und einen glaubwürdigen Umgangston – viel mehr als z.B. die Autoren von Life is Strange! Und das trägt viel dazu bei, dass Sam eine hervorragende Identifikationsfigur für Menschen ist, die ähnliche Fragen wie den jungen Mann – bzw. die junge Frau – beschäftigen.
So erfahren sie, wo sie Unterstützung finden oder welche einfachen ersten Schritte sie unternehmen können, ohne sich zu outen – die Bedeutung eines solchen Leitfadens kann man nicht hoch genug einordnen. Und wer mit Transsexualität nichts anfangen kann, versteht dadurch vielleicht ein bisschen besser, warum sich manche Freunde oder Verwandte in ihrer Haut und ihrem Umfeld nicht immer wohl fühlen.