Neues von Obisidian
Schon bei meinem Interview im Frühsommer ahnte ich, dass Design Director Josh Sawyer seine Chance nutzen würde: Als Teil der Microsoft-Studio-Familie für den Xbox Game Pass ein ungewöhnliches Adventure auf die Beine stellen. Wie wir vor kurzem berichteten, wäre Pentiment ohne die Einbindung in den Game Pass vermutlich nie entstanden. Was für ein Verlust wäre das gewesen! Denn dieses Spiel ist ein leiser, aber bedeutsamer Gegenentwurf zur AAA-Stagnation, die Games-Connaisseure der Spielebranche so gerne und oft vorwerfen: Pentiment schert sich einen feuchten Kehricht um Massentauglichkeit, es ballert den Spieler mit Text, Text und nochmal Text zu – Hallo, Torment: Tides of Numenera –, bietet aber keine Sprachausgabe an. Es sieht schrullig aus und erinnert an Holzschnitte oder Buchmalerei. Man spielt auch keine Superheldin, keinen Soldaten oder Weltall-Abenteurer sondern den Nürnberger Künstler und Meisteranwärter Andreas Maler, der sich aktuell sein Auskommen in der Schreibstube einer Abtei verdient und ansonsten im fiktiven bayrischen Dorf Tassing als Untermieter bei einer armen Bauernfamilie unterkommt.
Ich gebe unumwunden zu: Pentiment ist nicht für jeden Spielertyp geeignet – viele werden sich wegen des zähen Tempos abwenden oder schlicht kein Interesse an einem textlastigen Krimi-Adventure ohne Rätselkomponente haben. Aber die Themen, die dieses Spiel behandelt, sind so erfrischend anders, dass es eine Freude ist, damit in einem Videospiel konfrontiert zu werden: In Pentiment geht es darum, wie sehr der Abt eines Klosters die Bauern mit immer höheren Steuern auspresst, man erlebt die gesellschaftlichen und moralischen Zwänge innerhalb einer streng gläubigen Dorfgemeinschaft. Es geht auch um Hunger und kranke Kinder, um Unfreiheit in der Ehe, um Neid und Misstrauen zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten, um Ehebruch und Missbrauch. Gleichzeitig sehen wir, wie Menschen durch Bildung den Aufstieg schaffen können oder welche Auswirkungen die Erfindung des Buchdrucks hat, wir erleben Solidarität innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft und können ans Herz gewachsenen Protagonisten zusehen, wie sie ihr mitunter hartes Leben meistern, Kinder groß ziehen und Feste feiern.
Pentiment ist ein buntes, greifbares Panoptikum spätmittelalterlichen Lebens, es zeigt mit dem Brennglas auf die Sorgen der Menschen und bewegt den Spieler, ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu winken. Ich fühlte mich dabei mehr als einmal an den außergewöhnlichen Film Boyhood erinnert, weil auch in Pentiment nicht bloß ein kurzes Abenteuer oder eine turbulente Episode im Leben dieser Menschen gezeigt wird – diese Figuren existieren wirklich in der Spielwelt, sie werden erwachsen oder altern, sie verzweifeln am Leben oder bekommen Nachwuchs, und sie erinnern sich viele Jahre später an meinen Spieler-Charakter. All das verleiht dem Spiel eine Größe, eine Bedeutung wie sie nur relative wenige Spiele erlangen können.
Wo sind die Rätsel?
In puncto Spielemechanik war ich nicht enttäuscht, aber doch überrascht, wie sehr Pentiment die Dialoge in den Vordergrund rückt. Von ein, zwei kleinen Knobel-Momenten abgesehen existieren keine Denkaufgaben à la Monkey Island. Es gibt auch kein Inventar, kein Kombinieren von Gegenständen, kein Durchprobieren von Lösungsoptionen – Pentiment ist viel mehr Visual Novel als klassisches Adventure. Wenn man das weiß und von den etwas trägen Bewegungen des Herrn Maler nicht genervt ist, dann kann man sich auf das Abenteuer einlassen und in der hervorragend aufgezogenen Spielwelt versinken. Im Dorf gibt es viele Wege und begehbare Gebäude, im weitläufigen Kloster kann man sich schon mal verzetteln – dazu kommen Nebenschauplätze wie Mühle oder Wald sowie ein paar Extra-Locations, die man im Storyverlauf einmalig erkundet.
Einerseits vermittelt diese Spielwelt den Eindruck, dass man ein geschlossenes, überschaubares Ökosystem vor sich hat, dass man nach 15 oder 20 Spielstunden dann auch richtig gut kennt, andererseits gibt es so viele Figuren, Räume und Wege, dass sich das Hin- und Herlaufen sowie das Erkunden niemals nervig anfühlen. Ständig gibt es nach Ereignissen neue Dialog-Optionen und andere Personenkonstellationen, immer wieder verquatscht man sich oder stößt auf dem Hof am Ostrand oder in der Krypta unter der Kirche noch auf ein übersehenes Detail oder eine doch endlich redselige Person.
Hab noch nie so ein entschleunigtes Spiel erlebt. Egal wie hellwach ich bin, mein Gott, ich werde binnen Minuten so schläfrig. Dabei ist das ganze Ding echt Spannend, bin ich Kapitel 7.
Das geschieht ja alles. Aber darüber sprechen ist auch nicht verkehrt.
Lass die User diskutieren und im schlimmsten Fall präzise wie ein Chirurg eingreifen.
Das freut mich für euch natürlich, doch der sehr allgemeine Vorwurf steht weiterhin hier im Thread im Raum.
Dabei geht es mir wiederholt nicht darum, 4P in Schutz zu nehmen. Nur ist es halt so, dass es so viel am neuen 4P zu kritisieren gibt, dass wir uns mit einer übertriebenen und meiner Meinung nach nicht zutreffenden Kritik keinen Gefallen tun... Weil solch eine Kritik eher dazu führt, dass noch weniger irgendwas darauf gegeben wird, was irgendwer im Forum schreibt, als ohnehin schon.