Aus einer Katastrophe in die nächste
Dass sich Daiichi Dash schon eine ganze Weile in Arbeit befand, bemerkt man u.a. daran, dass die Story zum Start der Entwicklung noch ein brenzliges Thema war. Darf man die japanische Tsunami- und Atomkatastrophe schon so früh als Ausgangspunkt für ein Unterhaltungsprodukt benutzen? Nachdem das Spiel des kleinen Berliner Studios KKM eine Weile in der Versenkung verschwand, weil die Entwickler anderweitig ihre Bötchen verdienen mussten und nur noch nebenbei Zeit für ihr Herzensprojekt hatten, legt der Release nun eine Punktlandung inmitten einer pandemischen Katastrophe hin. Ziemlich verrückt irgendwie, gab auch Entwickler Christoph Mille zu, als er uns den Review-Key zusandte. Noch bizarrer ist natürlich die Farbgebung der Kulissen, die einen regelrecht anspringt. Und natürlich all das, was darin grotesk animiert herumwuselt: Insektoide Kuhmutanten, wild wimmernde Fuchsrümpfe, rotierende Untergrund-Nacktmulle und atomar glühender Möwenschiss sind nur einige der angenehm exzentrischen Warnungen vor der mehr oder weniger friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Auch gigantische tentaklige Bossmonster dürfen nicht fehlen. Sie sind aus weiß Gott wie vielen Tierarten und Meeresfrüchten verschmolzen und entfalten sich bei Annäherung auf unerwartete Weise, während im Hintergrund coole Electro-Synthies ihr finsteres Lied surren. Die Strahlung aus dem havarierten Atomkraftwerk war nicht gnädig zu ihrer Umwelt, also ist Aiko es auch nicht. Die junge Heldin aus Fukushima begibt sich auf einen knallbunten Rachefeldzug. Er führt nach Tokio, wo der finstere Stromkonzern, der all dies durch seine Schlampigkeit zu verantworten hat, seinen Sitz hat. Ich bezweifle, dass sich Aiko von einem Beratungsgespräch über moderne Thorium-Reaktoren beschwichtigen lassen würde. Schließlich sieht sie zu Beginn des Abenteuers ihren geliebten Opi am verseuchten Strand dahinsiechen. Als fürsorglicher Großvater hat er seiner Enkelin natürlich schon vor der Katastrophe einen Space-Harrier-Automaten mit einer Lightgun zurecht gemoddet. Man weiß ja nie! Auch diese Spielhallen-Hardware entwickelt nach der großen Verstrahlung wundersame Fähigkeiten. Das sich automatisch regenerierende Jetpack etwa weckt nostalgische Erinnerungen an die Höhlenerforschung in Activisions „H.E.R.O.“ auf dem C64.
Es kann nie genug Turricans geben!
Die Standard-Waffe dürfte Fans des offensichtlichen Vorbilds Turrican schon zu Beginn gute Laune bescheren: Sie ähnelt dem legendären „Brenner“, der hier allerdings auch beim Laufen und im Sprung zum Einsatz kommt. Der rotierbare Strahl mit begrenzter Reichweite knistert sich verlässlicher durch die Körper, als es sich Konstrukteure echter 5G-Todesstrahlen je wünschen könnten. Später wechselt man immer wieder zu Extrawaffen wie einer Schrotflinte oder roten Pixelraketen, die auch entfernte Bären vom Baum pusten. Unter der Erde räumt man mit diesem Arsenal spezielle Blöcke aus dem Weg, um sich den Weg durch verwinkelte Höhlen zu bahnen. Schön, dass sich endlich mal wieder ein Jump-n-Shoot-Entwickler an solch ein halboffenes Konzept wagt statt den x-ten weit offenen Metroid-Klon oder einen komplett linearen Action-Plattformer abzuliefern. Spiele im Turrican-Stil gibt es schließlich viel zu selten!
Ähnlich wie in Factor 5s Klassiker werden auch hier Autoscroll-Passagen eingestreut. Die meiste Zeit über bewegt man sich aber durch im Kern lineare Levels, die einige alternativ begehbare Abzweigungen bieten. Während man am Hafen, über schneeweiße Gipfel oder grüne Wipfel turnt, macht sich aber leider der Erfahrungsmangel des jungen Teams bemerkbar. Aufgrund der etwas hakligen Steuerung will einfach nicht der gleiche Spielfluss wie im Vorbild oder großen aktuellen Highlights wie Ori and the Will of the Wisps aufkommen. Stattdessen tastete ich mich meist vorsichtig voran, um nicht ursplötzlich in einen respawnenden Gegner zu krachen oder schon wieder unverschuldet vom Rand einer schwebenden Plattform in die Lava zu rutschen.
Probleme beim Feinschliff
Dadurch bleibt es zwar angenehm fordernd, doch inmitten des knallbunt gezeichneten Chaos wird es mitunter einfach zu ungenau. Nervig auch, dass man nach einem Game Over meist wieder komplett an den Anfang eines Levels versetzt wird (wer möchte, kann sich nach dem Bezwingen eines Endgegners aber immerhin wieder direkt zum Bosskampf begeben). Die erwähnten Probleme werden aber immerhin ein wenig durch die (spärlichen) Speicherpunkte und technische Tricks entschärft. Eine Scan-Funktion etwa offenbart auf Knopfdruck glühende Umrisse von Pfaden oder Hinweise auf die nächste Abzweigung.
Besser gefallen haben mir Momente, in denen ich mich nach etwas Herumirren einfach auf die Bewegungsabläufe der bizarren Tier- und Pflanzenwelt konzentrieren musste, damit schließlich der Groschen fiel und ich den Ausweg erkannte. Auch technisch präsentiert sich der Unity-Titel etwas unsauber: Ab und zu landeten wir zwischen den Lücken der Level-Architektur und auch das Scrolling wirkte nicht immer butterweich. Seltsam auch, dass der Lüfter meiner GeForce RTX 2080 Ti immer mal wieder in den Turbo-Gang schaltete, trotz der eigentlich leicht zu stemmenden 2D-Kulisse, in der man zwischendurch auch manchmal karge Gänge zu Gesicht bekommt.
Jup. Aber mit "Turrican-Stil" meint Jan das Spieldesign dieses Plattformers. Ist in der Schlagzeile etwas missverständlich.
Aber dieser Style hat nun echt gar nichts mit Turrican gemeinsam.
Vielleicht kein spielerischer Höhepunkt des Genres, aber optisch auf jeden Fall ein Meisterwerk. Mille ist einfach ein herausragender Künstler.