Manche Videospiele geben euch ein Versprechen, das sie auch halten. Bei The Last of Us 2: Ihr werdet erfahren, was Postapokalypse wirklich bedeutet. Bei Dark Souls: Ihr werdet durch das hundertfache Scheitern irgendwann siegen. Und Frostpunk verspricht euch: Ihr werdet moralische Entscheidungen fällen, die niemand sonst fällen kann (oder will). Das Spiel hat 2018 das sonst so meditative Märchenland der Aufbauspiele in eine eiskalte Survival-Hölle gestürzt.
Frostpunk hat sich einen voldemortigen Ruf verdient – wenn jemand seinen Namen sagt, fällt die Raumtemperatur sofort in den Keller. Sechs lange Jahre musste ich nun warten, um zu erfahren, ob meine viktorianische Gesellschaft die nächste Eiszeit überlebt hat. Jeder Fan hatte hohe Erwartungen an 11 bit studios, an Frostpunk 2 und an die Herausforderungen, die der neue Teil mit sich bringt – im besten Fall eine neue Eistaufe, die unser strategisches Können entweder für madenhaft oder gottgleich erklärt.
Vorab: Frostpunk 2 ist anders. Denn das Monster ist nicht mehr das ewige Eis, sondern Frankensteins Menschheit.
Frostpunk 2: Willkommen zurück, alter und neuer F(r)eind
Bevor wir loslegen, eine kurze Beobachtung: Das moderne berufstätige Erwachsenenleben hat zur Folge, dass ich mir einen Timer stelle, um meine Spielzeit genau zu überwachen – vor allem vor dem Hintergrund, dass ich privat und beruflich spiele. So hat jeder Teil meines Lebens eben sein jeweiliges Kuchenstück. Dabei beende ich meine Sessions oft früher als eigentlich geplant. Das liegt daran, dass es die meisten Spiele auch nicht mehr schaffen, mich so lange zu fesseln. Seitdem ich allerdings Frostpunk 2 spiele, überschreite ich diese (private und berufliche) Zeit mit großer Freude – genauso wie beim ersten Teil.
11 bit studios liefert eben keine bloßen Spiele, sondern intensive Erlebnisse. Ich bediene die Maus wie ein Dirigent, mein Hirn qualmt, ich murmle, fluche und diskutiere laut vor mich hin. Und wenn meine Gesellschaft erneut einen Schneesturm um Haaresbreite überlebt hat, schlage ich mit der Hand auf den Tisch und sage: “Ich hab’s euch doch gesagt, ihr verdammten Zweifler”. Also ja: Auch Frostpunk 2 ist mehr ein Erlebnis als ein Spiel.
Kurzer Rückblick: In Frostpunk war ich ein diktatorischer oder religiöser Alleinherrscher, der eine Stadt durch einen Sturm mit Temperaturen von Minus Hundert Grad führte. Während die Chormusik den letzten Kampf der Menschheit besang, konnte ich beweisen: Ja, mit der richtigen Führung, mit den richtigen Methoden kann selbst dieser gnadenlose Wettergott besiegt werden. Ich musste nur klüger – oder kälter als der Frost sein.
Eine neue Gesellschaft erhebt sich
Doch diese Zeiten sind in Frostpunk 2 vorbei: 30 Jahre später kehrt die Gesellschaft wieder stückweise zu ihrer zivilisierten Welt zurück. Was bedeutet: Mein Machtwahn hat ein Ende. Es geht den Menschen so gut, dass auch wieder Politik betrieben werden kann. Verschiedene Fraktionen haben nun unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Gesellschaft sie erbauen möchten. Ihr wiederum seid der Regent, der alle Interessen in Einklang bringen soll – was natürlich nicht geht. Denn ein Staat kann nicht zugleich kapitalistisch und kommunistisch sein.
Der Scope ist größer: Das wäre wohl das beste Motto, um Frostpunk 2 zu beschreiben. Die Städte sind jetzt Metropolen, statt Gebäude setzt ihr ganze Bezirke, eure Entscheidungen betreffen nicht mehr einzelne Tage, sondern ganze Monate. Stellt euch auf größere Dimensionen ein, weshalb auch der Tag- und Nachtwechsel für euch nicht mehr von Belang ist. Der Arbeitsablauf umfasst mehr Aufgaben und mehr Systeme, die ihr in Einklang bringen müsst. Fällt ein Sektor, betrifft das meistens auch die anderen.
Während ihr weiterhin die Stadt ausbauen und Ressourcen generieren müsst, sollt ihr gleichzeitig die Forschung und Gesetze vorantreiben, die nun zu einem Apparat zusammengewachsen sind. Doch jedes Projekt, das ihr umsetzen wollt, muss der Rat zuvor demokratisch absegnen – gesetzlich wie finanziell. Frostpunk 2 verfügt über Handlungs- und Kompromissphasen. Manchmal läuft alles glatt, manchmal sind alle Mittel da und manchmal müsst ihr Streitereien zwischen den Fraktionen schlichten, die alle Vorgänge – so auch eure Pläne – blockieren. Für alle, die immer geschrien haben: “Politik raus aus Videospielen”, wird das garantiert euer Albtraum