Tour de Canada
Das hätte ich dem jungen, kanadischen Team Scavengers Studio nicht zugetraut: Nach dem nicht unbedingt seelenlosen, aber spielerisch mäßigen und stilistisch austauschbaren Battle-Royal-Titel Darwin Project zaubert das Team ein richtig schönes „wholesome“-Game aus dem Hut: Season ist wohltuend, ruhig und beschaulich, zudem ein bisschen spirituell, ohne ins Esoterische abzudriften. „Pseudo-philosophisch“ hätten wir Spiele-Journalisten die Geschichte vermutlich noch vor ein paar Jahren genannt, als man beinahe jede Story jenseits von Weltenrettung und Zombie-Apokalypse mit diesem wenig schmeichelhaften Prädikat abtat.
Dabei geht es in Season ganz einfach um das Leben von Menschen, um ihren Bezug zur Welt und zur Natur sowie um das, was von ihrem Schaffen, ihrem Streben und von ihnen selbst am Ende bleibt. Eingebettet ist das Ganze in eine mal dramatische, mal leichtfüßige Erzählung, die nicht in unserer Welt spielt, aber es sehr gut könnte: Season hat zarte Coming-of-Age-Vibes und streift Aspekte von Umwelt oder Politik – es geht zum Beispiel um Erinnerungen an einen Krieg oder die Evakuierung eines Dorfs wegen einer baldigen Staudammsprengung – ebenso sind aber Familiengeschichten oder philosophische Gedankenpiele im Fokus. All das geschieht vor dem Hintergrund einer baldigen Apokalypse, bei der man bis zum Ende nicht weiß, ob sie bedrohlich, heilsam oder einfach nur unvermeidlich ist.
Radeln, reden & aufnehmen
Ganz konkret lenken wir im Spiel eine junge Frau of Color, die mit ihrem Drahtesel ein großes, fast menschenleeres Tal erkundet. Es geht über sanfte Hügel bis zu einer Küstenstraße, anderswo wechseln sich eine Kuhweide, seltsame Tempel im Wald oder eine verlassene Tankstelle ab. Die Hauptfigur verlässt ihr Elternhaus und ihren Heimatort, nimmt Foto-Apparat, Audio-Rekorder und ein Büchlein mit und möchte möglichst viele Eindrücke von ihrer Welt für zukünftige Generationen festhalten – daher auch der Untertitel „A letter to the future“. Der übrigens im deutschen Spielmenü mit „Ein Brief an die Zukunft“ übersetzt ist, in den deutschen Online-Stores aber „A letter to the future“ bleibt.
Die simplen Spielmechaniken sind schnörkellos und gut umgesetzt: Das Radfahren inklusive Pedale-Treten mit den Schultertasten fühlt sich am PS5-Pad gerade richtig an, bergauf wird’s ein bisschen mühevoll, bergab kann man es rollen lassen und die Aussicht genießen. Nach einem linearen Start öffnet sich nach gut zwei Stunden die Spielwelt, mit einer Karte ausgestattet erkundet man das Tieng Valley per Rad, steigt ab und parliert, porträtiert oder sinniert. Meine Hauptfigur zückt auf Knopfdruck eine Kamera ohne Schnickschnack (z. B. hätte ich mir noch unterschiedliche Bildformate und die Einstellung der Helligkeit gewünscht) und hält damit fest, was sie so sieht und erlebt. Tiere, Menschen, Gebäude, Hügel, Blumen, Tempel. Alternativ packt man ein Tonbandgerät aus, hält das Mikrofon in die Landschaft und nimmt Töne auf: Zum Beispiel das Rauschen eines Bachs, den Klang eines Musikinstruments, Vogelgezwitscher oder die gemurmelten Geschichten, die aus seltsamen pinken Erinnerungsblumen strömen.
Virtuell Tagebuch führen
Wenn das Spiel eine Bild- oder Tonaufnahme als relevant erachtet, werdet ihr darüber informiert, dass ihr nun wieder etwas für euer Tagebuch geschafft habt. Das virtuelle Büchlein könnt ihr aufklappen, durchblättern und selbst mit Inhalt füllen. Jeder Ort und jede kleine Geschichte im Spiel hat seine eigene Doppelseite, dort heftet ihr geknipste Polaroids ein, parkt Soundfiles oder tragt kurze Sprüche und Zitate aus Gesprächen und Erlebnissen ein. Ist ein bestimmter Füllgrad pro Doppelseite erreicht, dann sagt die Hauptfigur ein paar Worte dazu und erhält weitere Bilder, Grafiken oder Ornamente, um das Kapitel abzurunden. Ihr könnt Bilder, Texte, Skizzen & Co. skalieren und frei platzieren – so gestaltet jeder Spieler und jede Spielerin ein individuelles Reisetagebuch. Das kann richtig hübsch und verspielt aussehen, ein bisschen chaotisch sein oder mit stets gleich großen Fotos, rechten Winkeln und der akkuraten Ausrichtung am Seitenrand total durchorganisiert sein. Wie es euch gefällt.
Nach dem recht familiären, fast schon kleinbürgerlichen Start ins Abenteuer haben mich die Spielwelt und die vielen kleinen Geschichten total in den Bann gezogen. Denn einerseits fühlen sich das Radeln, der Zücken der Kamera, das Absteigen und Herumspazieren sehr geerdet und bodenständig an. „Das könnte auch ich sein, der im Allgäu auf Radtour geht“ denke ich mir. Und dann ragt da diese absurde Riesenstatue aus einer rosa schimmernden Wiese hervor, ich lerne eine komische, uniformierte Gruppierung namens „Graue Hände“ kennen und treffe schrullig-überdrehte Figuren, die direkt aus der Feder von Ghibli-Mastermind Hayao Miyazaki stammen könnten. Season: A letter to the future hat mich während meiner acht Stunden bis zum Abspann immer wieder neugierig gemacht, überrascht und fast schon den Kopf schütteln lassen. Und das mochte ich sehr.
Hab' vorhin auch eine knappe 3/4 Stunde hineingeschnuppert. Atmosphärisch und erzählerisch ist der Ersteindruck schon Mal super.
Auf jeden Fall ein schöner Kontrast zu meinen beiden letzten Spielen (Doom Eternal & Knack 2)
Danke! genau solche Spiele entdecke ich oft nur durch solche Tests