Veröffentlicht inTests

Season: A letter to the future (Adventure) – R(o)ad Trip gegen das Vergessen

„Hier ist er, der erste Überraschungs-Hit des Jahres“ wollte ich eigentlich schreiben, doch just gestern ist mir Cramer-san mit seinem Test von Hi-Fi Rush zuvorgekommen. Sei’s drum! Denn das malerische Erzähl-Abenteuer Season: A letter to the future holt sich 88% in unserem Test – es erzählt auf warmherzige Weise von der Reise einer jungen Frau, die eine seltsam vertraute und doch fantastische Spielwelt erkundet. Bevor dort das Ende der namensgebenden „season“ eingeläutet wird, dokumentiert sie den Ist-Zustand von Land und Leuten – sie führt Gespräche, fotografiert, macht Tonaufnahmen und hält die Erlebnisse ihrer Reise in ihrem Tagebuch fest. Warum das unglaublich faszinierend ist und wie sich drohende Apokalypse und spirituelle Naturorte zu einem wunderschönen, interaktiven Gemälde vereinen, dem gehen wir im Test auf den Grund.

© Scavengers Studio / Scavengers Studio

Tour de Canada

Das hätte ich dem jungen, kanadischen Team Scavengers Studio nicht zugetraut: Nach dem nicht unbedingt seelenlosen, aber spielerisch mäßigen und stilistisch austauschbaren Battle-Royal-Titel Darwin Project zaubert das Team ein richtig schönes „wholesome“-Game aus dem Hut: Season ist wohltuend, ruhig und beschaulich, zudem ein bisschen spirituell, ohne ins Esoterische abzudriften. „Pseudo-philosophisch“ hätten wir Spiele-Journalisten die Geschichte vermutlich noch vor ein paar Jahren genannt, als man beinahe jede Story jenseits von Weltenrettung und Zombie-Apokalypse mit diesem wenig schmeichelhaften Prädikat abtat.

[GUI_STATICIMAGE(setid=92453,id=92656210)]
Was Kratos im neuesten Spiel verwehrt bleibt, das geht hier: Tiere streicheln. © 4P/Screenshot

Dabei geht es in Season ganz einfach um das Leben von Menschen, um ihren Bezug zur Welt und zur Natur sowie um das, was von ihrem Schaffen, ihrem Streben und von ihnen selbst am Ende bleibt. Eingebettet ist das Ganze in eine mal dramatische, mal leichtfüßige Erzählung, die nicht in unserer Welt spielt, aber es sehr gut könnte: Season hat zarte Coming-of-Age-Vibes und streift Aspekte von Umwelt oder Politik – es geht zum Beispiel um Erinnerungen an einen Krieg oder die Evakuierung eines Dorfs wegen einer baldigen Staudammsprengung – ebenso sind aber Familiengeschichten oder philosophische Gedankenpiele im Fokus. All das geschieht vor dem Hintergrund einer baldigen Apokalypse, bei der man bis zum Ende nicht weiß, ob sie bedrohlich, heilsam oder einfach nur unvermeidlich ist.

Radeln, reden & aufnehmen


[GUI_STATICIMAGE(setid=92453,id=92656208)]
Welt, hier komme ich, um dich zu erkunden! © 4P/Screenshot

Ganz konkret lenken wir im Spiel eine junge Frau of Color, die mit ihrem Drahtesel ein großes, fast menschenleeres Tal erkundet. Es geht über sanfte Hügel bis zu einer Küstenstraße, anderswo wechseln sich eine Kuhweide, seltsame Tempel im Wald oder eine verlassene Tankstelle ab. Die Hauptfigur verlässt ihr Elternhaus und ihren Heimatort, nimmt Foto-Apparat, Audio-Rekorder und ein Büchlein mit und möchte möglichst viele Eindrücke von ihrer Welt für zukünftige Generationen festhalten – daher auch der Untertitel „A letter to the future“. Der übrigens im deutschen Spielmenü mit „Ein Brief an die Zukunft“ übersetzt ist, in den deutschen Online-Stores aber „A letter to the future“ bleibt.

[GUI_STATICIMAGE(setid=92453,id=92656213)]
Einige Charakter im Spiel sind wild, viel Spaß beim Kennenlernen. © 4P/Screenshot

Die simplen Spielmechaniken sind schnörkellos und gut umgesetzt: Das Radfahren inklusive Pedale-Treten mit den Schultertasten fühlt sich am PS5-Pad gerade richtig an, bergauf wird’s ein bisschen mühevoll, bergab kann man es rollen lassen und die Aussicht genießen. Nach einem linearen Start öffnet sich nach gut zwei Stunden die Spielwelt, mit einer Karte ausgestattet erkundet man das Tieng Valley per Rad, steigt ab und parliert, porträtiert oder sinniert. Meine Hauptfigur zückt auf Knopfdruck eine Kamera ohne Schnickschnack (z. B. hätte ich mir noch unterschiedliche Bildformate und die Einstellung der Helligkeit gewünscht) und hält damit fest, was sie so sieht und erlebt. Tiere, Menschen, Gebäude, Hügel, Blumen, Tempel. Alternativ packt man ein Tonbandgerät aus, hält das Mikrofon in die Landschaft und nimmt Töne auf: Zum Beispiel das Rauschen eines Bachs, den Klang eines Musikinstruments, Vogelgezwitscher oder die gemurmelten Geschichten, die aus seltsamen pinken Erinnerungsblumen strömen.

Virtuell Tagebuch führen


[GUI_STATICIMAGE(setid=92453,id=92656206)]
Parallel zu eurer Reise gestaltet ihr ein Tagebuch – das macht überraschend viel Spaß und funktioniert auch mechanisch sehr gut. © 4P/Screenshot

Wenn das Spiel eine Bild- oder Tonaufnahme als relevant erachtet, werdet ihr darüber informiert, dass ihr nun wieder etwas für euer Tagebuch geschafft habt. Das virtuelle Büchlein könnt ihr aufklappen, durchblättern und selbst mit Inhalt füllen. Jeder Ort und jede kleine Geschichte im Spiel hat seine eigene Doppelseite, dort heftet ihr geknipste Polaroids ein, parkt Soundfiles oder tragt kurze Sprüche und Zitate aus Gesprächen und Erlebnissen ein. Ist ein bestimmter Füllgrad pro Doppelseite erreicht, dann sagt die Hauptfigur ein paar Worte dazu und erhält weitere Bilder, Grafiken oder Ornamente, um das Kapitel abzurunden. Ihr könnt Bilder, Texte, Skizzen & Co. skalieren und frei platzieren – so gestaltet jeder Spieler und jede Spielerin ein individuelles Reisetagebuch. Das kann richtig hübsch und verspielt aussehen, ein bisschen chaotisch sein oder mit stets gleich großen Fotos, rechten Winkeln und der akkuraten Ausrichtung am Seitenrand total durchorganisiert sein. Wie es euch gefällt.

[GUI_STATICIMAGE(setid=92453,id=92656212)]
Mal wirkt die Spielwelt ganz banal, und dann trefft ihr auf strange Orte voller Magie und optischer Wucht. © 4P/Screenshot

Nach dem recht familiären, fast schon kleinbürgerlichen Start ins Abenteuer haben mich die Spielwelt und die vielen kleinen Geschichten total in den Bann gezogen. Denn einerseits fühlen sich das Radeln, der Zücken der Kamera, das Absteigen und Herumspazieren sehr geerdet und bodenständig an. „Das könnte auch ich sein, der im Allgäu auf Radtour geht“ denke ich mir. Und dann ragt da diese absurde Riesenstatue aus einer rosa schimmernden Wiese hervor, ich lerne eine komische, uniformierte Gruppierung namens „Graue Hände“ kennen und treffe schrullig-überdrehte Figuren, die direkt aus der Feder von Ghibli-Mastermind Hayao Miyazaki stammen könnten. Season: A letter to the future hat mich während meiner acht Stunden bis zum Abspann immer wieder neugierig gemacht, überrascht und fast schon den Kopf schütteln lassen. Und das mochte ich sehr.

  1. Hab' vorhin auch eine knappe 3/4 Stunde hineingeschnuppert. Atmosphärisch und erzählerisch ist der Ersteindruck schon Mal super.
    Auf jeden Fall ein schöner Kontrast zu meinen beiden letzten Spielen (Doom Eternal & Knack 2) :)

  2. starhorst hat geschrieben: 31.01.2023 14:23 Freut mich zu lesen, dass es gut geworden ist. Stand schon seit dem ersten Trailer auf meiner Liste. Und für aktuell 20 Euro im ps store sind mir auch "nur" 10h Spielzeit es wert.
    Wie, wo? Ich sehe es für 27 bzw 30 Euro im ps store...

  3. Testuser1874 hat geschrieben: 31.01.2023 14:39 "junge Frau of Color"... Sorry, da hast du mich bereits verloren XD
    Das Spiel werde ich vermutlich dennoch zocken, sieht durchaus interessant aus. Ich liebe virtuelle Road Trips.
    Ist doch echt gut, dass du dich in der Lage fühlst, ein Spiel trotz einer Protagonistin mit dunkler Hautfarbe zu spielen. Jetzt noch ein bisschen abwarten und es wird irgendwann alltäglich :Häschen:

Hinterlassen Sie bitte einen Kommentar.

Seite 1