Ryan Green hat vermutlich jetzt schon das persönlichste Spiel des Jahres geschaffen, denn der Einblick in seine Gefühlswelt sowie in Episoden aus dem Leben seines fünfjährig verstorbenen Sohnes ist wie ein Seelenspiegel: unverfälscht, weil Joel erst seit zwei Jahren tot ist, und ungefiltert, weil er tatsächlich erlebte Szenen selbst nachspricht.
Man hört ihn und seine Frau Amy sprechen, während sie die Prognose erhalten, dass ihr Sohn kein halbes Jahr mehr leben wird. Man hört den Ton eines Familienvideos, mit dem sie Joel während eines Besuchs auf dem Spielplatz aufgenommen haben. Man hört, wie sie eine Diskussion nachspielen, in der sich Amy an ihre Hoffnung klammert, während Ryan den Fakten ins Auge sehen will, obwohl er in einem Ozean zu ertrinken droht. That Dragon, Cancer ist kein Gleichnis auf die Erkrankung seines Sohnes. Es ist die autobiografische Nacherzählung aus der Sicht des trauernden Vaters. Metaphern wie die des Ozeans dienen lediglich der Visualisierung seiner Gefühlswelt.
Ein persönliches Spiel – für nur eine Person
Das Spiel ist ein emotionaler Kraftakt und eine bemerkenswerte Entwickler-Leistung! Immerhin öffnet Green sein Innerstes vor einem weltweiten Publikum.
Leider lässt er die Spieler aber nicht daran teilhaben.Es gelingt ihm einfach nicht, mich als jemanden anzusprechen, der seinen Schmerz und seine Freude aktiv nachempfinden soll. Warum? Weil sein Spiel meine Perspektive völlig
ignoriert und mir stattdessen die vom Entwickler gewählte aufzwingt. Natürlich ist Greens Schmerz intellektuell und darüber auch emotional nachvollziehbar – als erfahrbar empfand ich ihn allerdings nicht.
Alle und keiner und irgendwer
Das liegt u.a. an den vielen Perspektivwechseln, wenn die Kamera mehrmals während einer Szene etwa von Amy zu Ryan, dann zu Joel oder einem Arzt fährt, bevor man alle Charaktere aus der Perspektive einer gar nicht in der erzählten Welt vorhandenen Person ansieht. Die ständigen Wechsel sind ausgesprochen irritierend: Sie reißen mich aus dem Geschehen, weil ich keinen Anhaltspunkt zur Identifikation erhalte. Ich empfand sie als richtiggehend zermürbend, weil mir Green die Kontrolle entzieht, anstatt mich seine Geschichte entdecken zu lassen.
Selbst im minimalistischen Dear Esther konnte ich die inhaltlichen Zusammenhänge zwischen dem virtuellen Schauplatz und dem vorgetragenen Monolog eigenständig erforschen – hier darf ich mich nicht einmal frei bewegen, sondern klicke im Myst-Stil mühsam von einem Blickpunkt zum nächsten. Immersion und damit die Grundlage des Erlebens entsteht nie.
Ganz generell beschränkt sich die Interaktion auf das sture Finden des nächsten möglichen Klicks. In einer Schlüsselszene kann Ryan seinen leidenden Sohn etwa gar nicht mehr beruhigen. Er gibt ihm etwas zu trinken, doch Joel übergibt sich nur. Green will in dieser Szene seine Hilflosigkeit verdeutlichen, indem er jede Aktion des Spielers
fehlschlagen lässt. Er will herkömmliche Mechanismen unterwandern – eine hervorragende Idee! Tatsächlich verwendet er aber nicht einen echten Spielmechanismus, sondern lediglich aufeinander folgende, zwingend notwendige Klicks. Also führt man diese aus und wartet darauf, dass Green zeigt, was er zeigen will.
Unruhe statt Verständnis
Seinem Werk fehlt zudem ein dramaturgisches Konzept, denn alle Szenen sind zwar Versatzstücke einer tragischen Geschichte, wirken aber wie Bruchstücke. Weder die Krankengeschichte seines Sohns noch seine eigene emotionale Entwicklung oder die seiner Frau werden wirklich greifbar. That Dragon, Cancer zeichnet Umrisse eines schweren Schicksals, ohne seine Protagonisten zu beleuchten.
Green setzt keine Schwerpunkte – ein Eindruck, den die häufigen Perspektivwechsel nur unterstreichen. Seine Episoden bauen erzählerisch so lose aufeinander auf, als hätte der Autor hintereinander gestellt, was ihm der Reihe nach in den Sinn kam. Diese gefühlte Willkür verstärkte die Unruhe, die ich beim Spielen empfand, auch wenn das Spiel nach knapp zwei Stunden bereits vorüber war. In der Beschreibung ihrer Kickstarter-Kampagne schreiben Amy und Ryan Green: „Wir haben That Dragon, Cancer erschaffen, um die Geschichte unseres Sohns Joel und die seines vier Jahre dauernden Kampfes gegen den Krebs zu erzählen“. Aber genau das tun sie nicht. Stattdessen zitieren sie Fragmente ihrer Erinnerungen, ohne eine Verbindung zwischen ihnen und den Spielern herzustellen.
That Dragon, Cancer:
Die wirklich neue Art in einem Game zu sterben! Und das meine ich um Himmels Willen wegen der "Krebs-Thematik" niemals "ironisch", sondern ernst.
Wie gesagt: In fast allen Games gehört der Tod zur Unterhaltung, zum Beispiel, wenn ich in The Witcher 3 Feinde einen Kopf kürzer mache. Das ist "unterhaltend", weil der einzige Bezug zu den Feinden "Hass" ist und auch die Tode der Freunde sind teils "überzogene Heldentode".
Hier geht es aber um das Sterben an einer langen, schweren Krankheit und das bedeutet auch ein vollkommen neues Spielprinzip. Und daher finde ich die Bewertung dieses Spiels nicht okay.
Wäre das nun ein Film/Buch/Gemälde geworden, wär dann was anders?
Ich denk da jetzt auch schon seit Tagen drüber nach und komm zu keinem zufriedenstellendem Ergebniss. Zu Anders ist dieses von Uns so geschätzte Medium bzw. die Vertriebswege/Kommerzialisierungoptionen.
Wenn man nur das Spiel betrachtet, als sozusagen "fiktives" Werk, und die Geschichte dahinter mal ausklammert, was bleibt dann? Hätte es dieselbe Aufmerksamkeit erhalten?
Ich glaube, dass die Geschichte ordentlich nach hinten losgegangen wäre. "Geschmacklosigkeit" vorwerfende Steam-Trolle wären weitaus präsenter denn aktuell. Somit "braucht" dieses Spiel diese Authentizität als DaseinsBerechtigung.
Und hier stoß ich auf den Grund meines Problems.
Würde ich mein Kind derart der Öffentlichkeit präsentieren..? Nein. Niemals.
Aber darf ich mir hierzu ein Urteil erlauben?
Liebe kann vieles sein, vielleicht auch die Arbeit der Eltern an diesem Spiel.
Seine Meinung über den spielerischen Wert, von dieser "Tragödie" jedoch dazu verleiten zu lassen, den Vater als "guten" GameDesigner hinzustellen, wäre (bzw.ist) weitaus geschmackloser.
(Gutmenschen sind Assis)
Kann natürlich viele Gründe haben, aber am besten wäre es gewesen, finde ich auch, die Erfahrung möglichst "allen", ohne Bezahloptionen, zugänglich zu machen... Will da aber jetzt auch nix verteidigen oder unterstellen.
MrChronos hatte auch was dazu geschrieben, was etwas Einblick gewährt,
Ein Buch schreiben, einen Film machen .. auch einen interaktiven von mir aus .. aber der Verkauf?
Ich finds etwas komisch.