Point&Click-Rollenspiel
So richtig ignoriere ich den zentralen Mordfall natürlich nicht und natürlich lenkt mich das Spiel immer in Richtung roter Faden. Gleichzeitig schwelge ich aber in den fesselnden Geschichten der hervorragend geschriebenen Menschen dieser faszinierenden Parallelwelt. Auch in der gab es einen großen Krieg, den vereinte Streitkräfte gewannen, nachdem sie zu Beginn ihres Gegenschlags an einem Strand gelandet sind. Es gab den Aufstieg des Kapitalismus sowie die Gegenbewegung des Kommunismus. Die Dinge heißen hier anders, sind aber in eine vielschichtige Welt eingebettet, eine retrofuturistische Alternative unserer Realität mit kruden Computern und Fahrzeugen, deren technische Besonderheiten man erfährt, wenn man danach fragt.
Die Finesse und Fülle an Details, mit der ZA/UM, eine Gruppe junger Künstler, ihr erstes Spiel vorstellt, ist bemerkenswert. Selten hat mich eine digitale Fiktion so in ihren Bann gezogen. Die Art und Weise, mit der ZA/UM das gelingt, erinnert mich u.a. an William Gibson. Getragen wird sie von starken Kulissen, die sich tags und nachts unterscheiden und deren Figuren bei Einbruch der Nacht schlafen gehen. Disco Elysium ist keine lebendige offene Welt, sondern gleicht technisch und in der Art und Weise, auf die man mit der Umwelt interagiert, Point&Click-Adventures.
Man kommt auch kaum herum, sondern erkundet nur einen sehr übersichtlichen Teil der Stadt, wo man häufig stehenbleibt, um sich mit Anwohnern zu unterhalten. Der Schauplatz heißt Revachol, eine in Armen- und Reichenviertel geteilte Stadt mit einem Hafen, dessen Arbeiter sich gerade im Streik befinden. Nicht alle sind davon begeistert, am wenigsten die, die dringend Geld verdienen müssen. Rassismus, Homophobie und andere Probleme spielen ohnehin zentrale Rollen. Mit anderen Worten: Revachol ist ein gesellschaftlicher Brennpunkt. Es liegt daher nahe, dass der Tote seine missliche Lage einem politischen Motiv verdankt.
Die Kunst zu reden
Vieles davon erfährt man, wenn die Menschen dem abgewrackten Polizisten davon erzählen – weil er sich ihrer Probleme annimmt, weil er sie einschüchtert, weil er gut mit Menschen kann oder weil er eine entscheidende Eingebung hat – je nachdem, welche Fähigkeiten ich ihm anfangs verliehen oder im Verlauf des Spiels entwickelt habe. Denn Disco Elysium ist ein digital gewordenes Pen&Paper-Rollenspiel, in dem das Gelingen jeder Aktion durch (automatisches) Würfeln ausgelost wird. Das ist in vielen Spielen so, wird hier aber auch so dargestellt. Die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Wurfs wird dabei im Vorfeld angezeigt. Im Mittelpunkt stehen also die Entscheidung, welches Risiko man eingehen will, und welche Werte man wie verbessert, um ausgesuchte Herausforderungen anzugehen.
Es ist leider die einzige Spielmechanik, die es hier gibt. Weder kämpft man noch knackt man aktiv Schlösser und selbst dort, wo man Spuren findet, fügt man die Indizien nicht durch detektivisches Kombinieren zusammen, obwohl das kriminologische Grübeln gerade diesem Spiel hervorragend gestanden hätte. Man löst daher stets Würfelproben aus; meist als Dialogoption, manchmal auch an Objekten wie Briefkästen, gegen die man treten kann.
Die Fähigkeiten verrückt zu sein
Das Gute daran: Es spielt fast keine Rolle, ob der virtuelle Wurf gelingt, da man die meisten Würfe wiederholen darf, sobald man die dafür benötigte Fähigkeit gesteigert oder bestimmte Maßnahmen ergriffen hat. Vielleicht löst man die Aufgabe auch auf ganz andere Weise – die Verzweigungen besonders in den Gesprächen sind enorm umfangreich. Das betrifft nicht nur die grundlegenden Multiple-Choice-Optionen, sondern auch die Art und Weise, mit der sich Fähigkeiten wie ein besonders umfangreiches Wissen oder eine Art übersinnliches Empfinden in die Unterhaltungen einklinken, um durch spezifische Beobachtungen oder Ideen weitere Optionen einzubringen. Spontaneität bietet andere Antwortmöglichkeiten als logisches Schlussfolgern, detektivische Fähigkeiten oder pure Intuition.
Ansonsten kippt deine Argumentation in sich zusammen, sobald das Spiel nicht von einem Deutschen Muttersprachler geschrieben wurde. Denn was nutzt mir die "Präzision" der Deutschen Sprache (die auch überbewertet wird, da gibt es genug Unschärfen), wenn die "Gags" auf Englisch geschrieben wurden?
Oder, wie in diesem Fall, in Estnisch, weil es von einem Estnischen Autoren geschrieben wurde?
Dem wird ein "Kindergarten" völlig egal gewesen sein.
Da ich davon ausgehe, dass von den meisten hier das Estnisch ungefähr so mies ist wie mein Bulgarisch (Spoiler: Extrem mies), hat eine Lokalisierung sehr viel Sinn.
Dann bleibt die Frage, wie gut die ist. Bis auf extrem wenige Ausnahmen, die mir nicht mal mehr einfallen wollen, ist die Deutsche gefühlt nie gut - gerade WEIL ich als Muttersprachler die Unschärfen raushören kann. Bzw. kann man oft das Budget der Sprecher hören. (Bzw. der Regie!!)
Ich bin mir nicht sicher, wie das so bei Videospielen gemacht wird, aber bei uns im Laden wird die Doku in der Muttersprache des Redakteurs erstellt, dann in Englisch übersetzt und von da aus in die Zielsprachen.
(Weil man leichter Slovenische Übersetzer findet, die Englisch können, als welche, die DE verstehen.)
Wenn das bei Spielen wie Disco Elysium auch so ist, dann hast du dann ein DE, das durch zwei Übersetzungsinstanzen gegangen ist. Wie viel vom Estnischen Wortwitz dann noch übrig ist, wage ich mir gar nicht vorzustellen.
*Überhaupt war mir das Lernen von Englisch damals ein echtes Anliegen, weil ich sonst nichts von dem verstanden habe, was da auf dem Schirm...