Besser noch: Steigert man einige der 24 Fähigkeiten weit genug, geraten die dem abgehalfterten Alkoholiker nicht nur zum Vorteil, sondern lassen ihn stellenweise glatt verrückt erscheinen. Man unterhält sich ja sogar mit den Charakterzügen. Ganze Dialogäste drehen sich um den Plausch mit sich selbst, was mitunter zum Öffnen weiterer Aufgaben führt. Nicht zuletzt erhält man je nach Entwicklung der Eigenschaften zusätzliche Informationen über die Umgebung.
Ein bisschen sexy
So nimmt man die Welt wahr, wie sie die Eingebungen beschreiben. Man lernt einen Mann kennen, der nicht nur verschiedene Interaktionen unterschiedlich gut ausführt, sondern sich auch erzählerisch über die Charakterentwicklung definiert. Und es ist klasse, wie die große Handlungs- und Gestaltungsfreiheit beim Verkörpern der Figur mit einer ausgefeilten Charakterzeichnung zusammenkommt! Denn tatsächlich erfährt man irgendwann auch Persönliches, teils Tragisches, das ihm eine starke emotionale Seite verleiht. So viele Tränen ich hier auch gelacht habe, so sehr habe ich Kim und den armen Schlucker irgendwann ins Herz geschlossen.
Die große Freiheit bei der Auswahl von Dialogoptionen ist für mich dabei das Besondere, da man vom Vollpfosten bis hin zum Supermacho viele Facetten einer Person verkörpern kann. Und wie gesagt: jene prächtige alberne Idiotie, die mich an eine entschleunigte Version von Sterling Archer erinnert. Als ich die Möglichkeit hatte ein Kind, das ich noch nie zuvor getroffen hatte, mit „I am the law!“ anzusprechen, habe ich jedenfalls nicht lange gezögert.
Und dann musste ich Kim noch ein paar Fragen stellen: Findet er nicht auch, dass es sich um einen ziemlich mysteriösen Fall handelt? Nein? Ich meine einen wirklich sehr mysteriösen Fall! Er möchte gerne das Thema wechseln. Aber ein bisschen sexy ist die Sache schon, oder? Diesen Blick wird er mir noch häufiger zuwerfen. Lange war es dann jedenfalls eine meiner Aufgaben, Kim davon zu überzeugen, dass dieser Fall doch irgendwie sexy und geheimnisvoll ist…
Aller Anfang…
Nur mit dem Einstieg hat es mir ZA/UM nicht leicht gemacht. Da musste ich nämlich gleich mehrmals das Zeitliche segnen. „Musste“, weil viele Game Over weder vorhersehbar noch vermeidbar sind, falls man nicht zu Beginn schon über bestimmte Fähigkeiten verfügt. Nun ist es nur logisch, dass sich ein physisch schwacher Charakter einen Zeh einhaut, wenn er gegen den erwähnten Briefkasten tritt. Dass seine Reise deshalb aber glatt endet, ist spätestens nach drei solcher Abbrüche nicht mehr ganz so lustig.
Immerhin wirkt man dem Schwächen der körperlichen und geistigen Stärke entgegen, indem man binnen weniger Sekunden das jeweilige Gegenmittel aktiviert. Das ist ein interessantes Element und bringt mich dazu, Fundgegenstände im Antiquariat zu verhökern oder mit einer gelben Mülltüte herumzulaufen, um alte Flaschen aufzulesen und ins Recycling zu stecken – eine köstliche Variante des modernen Sammelwahns! Sogar die zur Lösung mancher Aufgaben benötigten Objekte darf man übrigens verkaufen. Um anfänglichem Frust vorzubeugen wäre es nur schön, wenn man zu Beginn schon zwei oder drei Heilmittel dabeihat, anstatt ohne loszulegen.
Spieldesign vs. Spielerleben
Und auch das zentrale Dialog-, Würfel- bzw. Speichersystem ist nicht ohne Schwächen, da man zum einen den Großteil fast aller Unterhaltungen beliebig oft wiederholen kann, um etwa sämtliche Gesprächsoption durchzuklicken. Das mag ganz praktisch sein, raubt ihnen aber auch einen Teil des sonst so Glaubhaften. Zum anderen kann man jeden Wurf durch hartnäckiges Speichern-Würfeln-Neuladen… so lange wiederholen, bis er irgendwann funktioniert. Ich verzichte darauf, weil ich gerade in der Rolle dieses abgewrackten „Superstars“ (wenn man ihn so spielt, hält er sich ja selbst für einen – eine traurige Karaoke-Nummer unterstreicht das nur) unheimlich gerne erzählerische Konsequenzen durchlebe. Unterm Strich ist Disco Elysium aber eben nicht nur als eine lebendige virtuelle Welt erkennbar, die gerade ein Videospiel so überzeugend erschaffen könnte.
Im Gegenzug spornt die offene, komplett klassenfreie Charakterentwicklung zum Experimentieren an, weil man nicht nur Erfahrungspunkte in höhere Werte investiert, sondern damit auch besondere Eigenschaften aktiviert, die bestimmte Fertigkeiten auf Kosten anderer steigern. Zusätzlich nimmt man Drogen, um auch hier im Austausch bestimmte Werte andere kurzzeitig zu verbessern. Und zu guter Letzt beeinflussen sogar Kleidungsstücke die Fähigkeiten – weshalb man gelegentlich leider schon mal das gesamte Inventar nach Jacken, Hosen, Hüten und mehr durchwühlt, um die Erfolgschancen eine Würfelprobe zu verbessern. Oder erspart man sich das, um es durch Schnellspeichern einfach mehrmals zu probieren? So motivierend das System grundsätzlich ist: Wirklich elegant ist es leider nicht.
Ansonsten kippt deine Argumentation in sich zusammen, sobald das Spiel nicht von einem Deutschen Muttersprachler geschrieben wurde. Denn was nutzt mir die "Präzision" der Deutschen Sprache (die auch überbewertet wird, da gibt es genug Unschärfen), wenn die "Gags" auf Englisch geschrieben wurden?
Oder, wie in diesem Fall, in Estnisch, weil es von einem Estnischen Autoren geschrieben wurde?
Dem wird ein "Kindergarten" völlig egal gewesen sein.
Da ich davon ausgehe, dass von den meisten hier das Estnisch ungefähr so mies ist wie mein Bulgarisch (Spoiler: Extrem mies), hat eine Lokalisierung sehr viel Sinn.
Dann bleibt die Frage, wie gut die ist. Bis auf extrem wenige Ausnahmen, die mir nicht mal mehr einfallen wollen, ist die Deutsche gefühlt nie gut - gerade WEIL ich als Muttersprachler die Unschärfen raushören kann. Bzw. kann man oft das Budget der Sprecher hören. (Bzw. der Regie!!)
Ich bin mir nicht sicher, wie das so bei Videospielen gemacht wird, aber bei uns im Laden wird die Doku in der Muttersprache des Redakteurs erstellt, dann in Englisch übersetzt und von da aus in die Zielsprachen.
(Weil man leichter Slovenische Übersetzer findet, die Englisch können, als welche, die DE verstehen.)
Wenn das bei Spielen wie Disco Elysium auch so ist, dann hast du dann ein DE, das durch zwei Übersetzungsinstanzen gegangen ist. Wie viel vom Estnischen Wortwitz dann noch übrig ist, wage ich mir gar nicht vorzustellen.
*Überhaupt war mir das Lernen von Englisch damals ein echtes Anliegen, weil ich sonst nichts von dem verstanden habe, was da auf dem Schirm...