Aber zu Beginn wisst ihr von all dieser Fülle noch wenig, denn ihr seid in einem abgeschiedenen Kloster aufgewachsen und kennt lediglich euren weisen Meister Li sowie einige Mitschüler. Trotzdem müsst ihr euch gleich einige Fragen stellen: Warum seid ihr eigentlich der Liebling eures Meisters? Der greise Kämpfer bevorzugt euch dermaßen, dass sich bereits ein Duell mit einem eifersüchtigen Nebenbuhler ankündigt. Ihr geht zwar siegreich aus diesem Scharmützel hervor, aber danach beginnen die Probleme – das Dorf wird überfallen, Geister streifen durch die Wälder, eure Freundin wird entführt. Was ist da los? Nach einer mysteriösen unterirdischen Einweihung wird euer Schicksal enthüllt: Ihr seid der letzte Überlebende eines Bergvolkes, der nichts Geringeres als die kosmische Balance des Reiches retten muss!
Das Figurendesign ist fantastisch, erinnert teilweise an japanische Animationskunst von Miyazaki.
Das ist das treibende Leitmotiv des Abenteuers: die Balance. Denn genau darum geht es sowohl bei der Charakterentwicklung als auch im Kampf, sowohl bei der Wahl eurer Mitstreiter als auch in Gesprächen. Eure Fähigkeiten müssen genau so im Gleichgewicht gedeihen wie die Welt der Lebenden und der Toten, wie Aggressivität und Passivität – ein angenehmer Hauch chinesischer Philosophie weht hier durch Jade Empire. Bioware manifestiert das in einem frisch wirkenden Moralsystem: Ihr folgt entweder dem „Weg der offenen Hand“ oder dem „Weg der geschlossenen Faust“. Aber was sich nach einer kreativen Alternative zum Gut-Böse-System von KotOR anhört, mutiert im Laufe des Spiels zu einer Kopie unter anderem Namen. Denn die offene Hand ist der hohe, der gute Pfad; die geschlossene Faust der niedere, der böse Pfad.
Auch die Statistik wirkt wie ein Zwilling: Euer moralischer Zustand wird auf einer Skala angezeigt, die nach jeder Entscheidung angepasst wird. Wenn man plündert, mordet und schamlos ausnutzt wird sie sinken; wenn man selbstlos hilft und als Retter einspringt, wird sie steigen. Spielerisch hat man von einem Mittelweg allerdings wenig: Denn nicht nur viele der Juwelen, die eure Fähigkeiten verbessern können, sondern auch effektive Kampfstile und so manche Nebenquest kann man nur erhalten, wenn man sich deutlich zu einem Weg bekennt. Dieses System ist genau so zweigeteilt und schnell durchschaut wie das von KotOR. Aber irgendwie scheint der böse Weg hier von Anfang an weniger reizvoll, weniger interessant als in der Science-Fiction-Welt, denn man wird sofort in ein Netz von Freunden und Beziehungen eingespannt, die die dunkle Alternative deutlich abwerten. Trotz dieses Aha-Effektes macht es Spaß, wenn man in die altbekannten Gewissenskonflikte gestürzt wird, denn um alle ranken sich kleine Tragödien und Lebensläufe.
Hohe Erzählkunst
In Sachen Präsentation hat man das Star Wars-Rollenspiel klar überholt: Die Story wird mal von lieblichen, mal wuchtigen und nur an Schlüsselstellen laut auftrumpfender Musik getragen. Sehr gut arrangierte Dialogsequenzen in Spielgrafik und herrliche Filme in Renderqualität treiben sie voran: Egal ob es um spektakuläre Flüge über die Baumgrenze, flammende Luftangriffe oder den Auftritt Bildschirm füllender Monster geht – die entscheidenden Stellen werden prächtig inszeniert. Dadurch wirkt die mythische Welt wesentlich einprägsamer und lebendiger.
Der Garten der Gelehrten lockt mit knackigen Rededuellen. |
Wie ist die Qualität der Story? Obwohl man für meinen Geschmack etwas zu direkt in die Rolle des ultimativen Helden gepresst wird, und das Übel etwas zu schnell beim Namen genannt wird, kann die Geschichte mit epischer Breite und spannenden Wendungen sowie einem überraschenden Finale punkten. Wirkt die Mitte des Abenteuers etwas langatmig, kommt es in den letzten drei Stunden zu einem dramatischen Showdown. Alle Mosaiksteine passen am Ende in ein sorgfältiges Gerüst von fein ausgestreuten Gerüchten, Indizien und Fakten.
Biowares erzählerische Klasse blitzt vor allem in den vielschichtigen Dialogen auf: Die deutschen Sprecher sind hervorragend gewählt, an jeder Stelle schauspielerisch überzeugend und die Texte sind durch die Bank lesenswert, verschachtelt und amüsant. Wer sich einfach durchklickt, wird einige Feinheiten verpassen. Es gibt eine Vielzahl an markanten Charakteren und Anekdoten, die auch nach dem ersten Durchspielen noch in Erinnerung bleiben werden: tyrannische Hausfrauen, zickige Gelehrte, verrohte Kinder, nachdenkliche Mörder, hinterlistige Kannibalen und brutale Machtmenschen.
Hinzu kommen jede Menge knifflige Situationen, die echtes Rollenspiel von euch verlangen und Konsequenzen nach sich ziehen: Vor einem Arenakampf bietet euch jemand vergiftete Klingen an – annehmen oder ablehnen? Eine Prostituierte klagt über den Sadismus eines Freiers – ihm auflauern oder sie einschüchtern? Ein Student wird von einem eifersüchtigen Ehemann gesucht – ihn verraten oder unterstützen? Ihr habt sehr oft die angenehme Qual der Wahl, ob ihr mit Engelszungen, Polemik oder Überzeugungskraft vorgeht. Und so linear Jade Empire auch in Sachen Story ist, findet ihr abseits des Hauptpfades und innerhalb der Quests immer wieder interessante Gabelungen.
Jade Empire war (leider) nicht gerade ein erfolgreiches Spiel.
Hingegen hat BioWare aber alle Hände voll zu tun mit Mass Effect 3, Dragon Age 3 und natürlich TOR, allesamt Melkmaschinen.
Ich kann mir kaum vorstellen, dass man sich da allzu viel Zeit für JE nehmen wird, daher würde ich auf solche Gerüchte nicht allzu viel geben. :wink:
Edit:
Du beziehst Dich vermutlich auf diese Aussage von Muzyka: Aber im Endeffekt heißt das auch nur:
"Ja, wir mögen JE, aber andere Spiele sind momentan wichtiger. An JE2 arbeiten tun wir jedenfalls gerade nicht, aber vielleicht irgendwann in Zukunft."
Soll mir aber auch recht sein. ME und DA sind mindestens genauso interessant.
Edit 2:
Oh, da gibt's ja auch nen ganzen Thread drüber..
Inzwischen sind ein paar Jährchen vergangen, wir schreiben 2011, und es gehen Gerüchte von einem JE- Sequel um- Grund genug sich noch mal Jörgs alten Test vorzunehmen.
Und, Jungejunge, nur etwas über dreissig Kommentare für einen Jörg-testet-ein-dolles-Rollenspiel-Test ?
DAS waren noch Zeiten.
Aber Gnade dir, Jörg, wenn du es WAGEN solltest ein eventuelles Sequel unter 80 zu bewerten- jetzt KENNEN wir das Ding
Ich hab die Spiele auf dem PC durchgespielt und kann beide für Leute, die auf Action-RPGs stehen, empfehlen. Gute Story, gute Action. Wer reinrassige Rollenspiele erwartet, wird aber enttäuscht. Ist eher was für zwischendurch.
Ich hab es auf dem PC gespielt. Ist wirklich ein gutes Spiel. Die 10 Euro, die es mittlerweile kostet, ist es auf jeden Fall wert.