…überbringt man als so genannter „Schicksalsbinder“ nicht. Im Gegenteil: Es ist ein Todesurteil. Als Gesandter des Tyrannen Kyros hat man ein Ultimatum zu verkünden, das allen die Vernichtung bringen kann – sowohl Freund als auch Feind. Das sind zum einen die unterdrückten Stufenvölker, die sich gegen Kyros wehren. Und das sind zum anderen seine beiden Armeen, die diese Rebellen eigentlich unterwerfen sollen. Aber der chaotisch böse „Scharlachrote Chor“ und die ehrenvoll elitären „Geschmähten“ sind sich aufgrund unterschiedlicher militärischer Traditionen sowie Weltanschauungen selbst spinnefeind und werfen sich meist totales Versagen vor.
Um den Druck auf die Anwesenden zu erhöhen, wird das umkämpfte Tal auch noch magisch versiegelt. Es gibt kein Entkommen – alle sind bis zum Ablauf der Frist von acht Tagen gefangen. Das Edikt verlangt, dass der Aufstand der Stufenvölker bis dahin niedergeschlagen wird oder die Magie des Kyros‘ wird alle Beteiligten ohne Rücksicht auf Verluste vernichten. Man ist kein Held, sondern ein Todesbote. Wird man nicht von allen gehasst? Wie soll man da noch etwas beeinflussen? Gibt es überhaupt mehrere Wege? Oh ja. Obsidian Entertainment gelingt es, das Spiel und damit das Wesen des eigenen Charakters so offen zu gestalten, dass man vom brutalen Schlächter über den gnadenlosen Unterdrücker, den listigen Intriganten bis hin zum Retter der Rebellen alle Facetten ausleben kann. Es ist im besten Sinne ein Spiel mit der eigenen Rolle.
Entscheidungen im Stakkato
Tyranny verzichtet auf epische Gemütlichkeit à la Pillars of Eternity, redet gleich Tacheles und fordert Entscheidungen in hoher Frequenz. Nahezu jeder Dialog und jede Aktion wirkt sich innerhalb der stets aktualisierten Reputation gegenüber Gruppen, Gefährten sowie Anführern aus – und zwar parallel.
Sprich: Positive und negative Antworten sowie Aktionen auf dem Schlachtfeld werden nicht in einem Wert summiert, sondern sie lassen z.B. „Gunst“ und „Zorn“ gemeinsam wachsen. Erreicht man in einem Bereich einen bestimmten Wert, verhalten sich die Beteiligten nicht nur anders, man schaltet auch Gefährtenkombos frei, die einem im Kampf enorme Vorteile bringen. Es klingt zwar etwas paradox, dass man auch von einem wütenden Partner profitiert, aber dafür birgt die Antipathie andere Risikien abseits der Gefechte.
Es gibt nur wenige Rollenspiele, in denen die Reputation gegenüber Fraktionen sowie daraus resultierende Fähigkeiten sowie Änderungen in der Welt so stark das Spieldesign prägen – auch The Age of Decadence konnte vor allem mit Letzterem punkten. Der Vorteil dieser dramaturgischen Dichte: Man liest die Gespräche nicht nur sehr aufmerksam, sondern hat aufgrund des direkten Feedbacks nach einer Lüge, List oder Überzeugung sofort das angenehme Gefühl, den Verlauf der Geschichte aktiv beeinflussen zu können. Loyalität oder Furcht steigen auf allen Seiten so schnell, dass es immer spannender wird. Man fragt sich: Wer flippt wann aus? Wann fällt man von diesem schmalen Grat in die Tiefe? Hat man sich z.B. auf eine der beiden Armeen festgelegt, kann man sehr schnell sehen, wie die Lage bei den anderen kippt und man in deren Gunst sinkt. Will man alles ausbalancieren, entsteht ein köstliches Vabanque-Spiel.
Ich hole Tyranny gerade nach und finde es zutiefst bedauerlich, dass es vergleichsweise untergegangen ist.
Normalerweise spiele ich in solchen Titeln eher den 0815 chaotisch guten Dude von nebenan, aber hier setze ich Kyros' gottverdammtes Gesetz durch, teilweise sogar mit völliger Überzeugung und maximaler Inbrunst, denn irgendjemand muss diese starrsinnigen, von vermeintlicher Ehre besessenen Stufenbewohner ja vor der endgültigen Auslöschung bewahren.
Dass ich, um den Krieg zügig zu beenden, dabei mit noch starrsinnigeren, recht faschistoiden Fanatikern paktiere (und mir insgeheim die Option offen halte, dieses Bündnis bei Bedarf zu brechen), ist nur Mittel zum größeren Zweck.
Grandios! Mehr davon!
Da sind mir die recht lahmen Kämpfe und die Loot-Langeweile auch relativ wumpe. Man stelle sich nur vor, mehr Budget würde in Entscheidungsfreiheit bei Dialogen und daraus resultierende Konsequenzen gepumpt anstatt in raytracing und ähnlichen Klimbim...
Ich habe Tyranny durchgespielt und fand die Geschichte meisterhaft. Tatsächlich ist es meiner Meinung nach gar nicht möglich, eine so fesselnde Geschichte zu erzählen, wenn ausufernde Nebenquests oder endloses Schlachtgetümmel den Faden ständig wieder abreißen lassen. Wo vielleicht noch etwas mehr gegangen wäre, sind die Zwiegespräche der Party. So etwas wie: "Nicht so laut Du wandelndes Belagerungsgerät. Es besteht überhaupt kein Grund sich übereilt in den Kampf zu stürzen." Lyra zu Barik. Davon hätte ruhig mehr kommen können, Mit anderen Worten, ich hätte gern noch mehr Text gehabt. Gerade weil Obsidian diesen Punkt bei NWN2 zum Beispiel sehr gut hinbekommen hat. (Dafür war der Plot dort nur gut verpackter Standard).
Die Kämpfe waren tatsächlich weniger spannend und immer etwas hölzern. Am Anfang sind es immer 4 Gegner, später 5 und noch später auch mal 6. Schöner wäre es gewesen wenn mal richtig viele (aber dafür schwächere Gegner aufgetaucht wären) oder anderweitig mehr Abwechslung geherrscht hätte. Z.B. durch die Einbeziehung von Sichtlinien. Lediglich die Geister haben eine kurze Veränderung der Angriffstaktik erfordert. Im allgemeinen kommt man sonst mit ein und der selben Taktik durch. Ich habe bei Halbzeit auf schwer umgestellt, das hat auch keine wirkliche Herausforderung gebracht. Naja, spannende Kämpfe und spannende Story in einem Spiel sind vielleicht zu viel erwartet.
Nach dieser Erfahrung und dem vollständigen Lesen dieses Threads werde ich mir wohl planescape torment bei gog kaufen müssen,
Ist halt komisch, mit vielem was du schreibst über IE hast du vollkommen recht, trotzdem machen die Kämpfe mehr Spass. Hast sogar vergessen, dass man sich als Magier unverwundbar machen konnte wenn ich mich recht erinnere (in BG2 ohne mods). Super toll war die IE wirklich nicht. Wünsche mir immer noch ein Spiel wie PoE oder Tyranny mit den Kampfmechaniken von PoEE.
Danke, ich werde dann White March definitiv mal versuchen.