Der Nachteil dieses politischen Ränkespiels: Man wird so schnell hineingeworfen, dass es zunächst schwer fällt, sich in die Rolle hineinzuversetzen. Terratus ist ja eine unbekannte Fantasywelt, deren Völker, Eigenheiten und Geschichte man erst kennenlernen muss. Warum soll man sich für die eine oder andere Armee entscheiden? Und wer ist eigentlich dieser Kyros, für den man arbeitet? Auch wenn der Prolog eine erzählerische Grundlage anbietet und man eine Art Einstieg selbst spielen oder festlegen kann, der für eine eigene Vorgeschichte sorgt, fremdelt man zunächst in dieser politisch unvertrauten Gemengelage. Obsidian Entertainment gelingt es allerdings über geschickte Keyword-Verlinkung in allen Dialogen eine interaktive Enzyklopädie aufzubauen, so dass man jederzeit auf einen Namen oder Begriff zeigen kann, um eine Art Lexikoneintrag zu lesen.
Das ist genauso vorbildlich wie die Gespräche selbst: Sie sind gut geschrieben und ins Deutsche übersetzt, bieten neben szenischen Beschreibungen in kursiv eine Fülle von Alternativen sowie viele Fähigkeitenproben, die immer wieder die eigenen Werte in Athletik, Wissen & Co berücksichtigen. Jedesmal wenn man seine Fähigkeiten einsetzt, gewinnt man darin auch Erfahrungspunkte und steigt irgendwann im Rang auf. Wer also rhetorisch immer wieder auf die List setzt, wird sich dort verbessern.
Es wird nicht so viel Lektüre vorausgesetzt wie im kommenden Torment: Tides of Numenera, aber wer Klassiker wie Planescape Torment mag, wird sich hier pudelwohl fühlen. Die Spielwelt von Terrratus ist aber nicht derart exotisch fremd, sondern für meinen Geschmack zu klassisch und trotz der anfänglichen Hürden letztlich schnell durchschaubar, zumal es lediglich Menschen und keine anderen Rassen gibt. Auch die humanoiden „Parteien“ und Interessen sind recht klar zu trennen.
Sichtbare Konsequenzen
Sehr schön ist, dass sich die eigenen Entscheidungen sichtbar auswirken: Die bis zu drei Gefährten, die man in seine Vierergruppe aufnehmen kann, kommentieren z.B. lebhaft Gespräche und Aktionen. Außerdem gehören sie ja selbst einer der drei Fraktionen an und streiten untereinander, was zu köstlichem Trashtalk oder gar Duellen führen kann. Alle NSC haben komplett ausgearbeitete Biografien, die man in persönlichen Gesprächen entdecken kann. Das Schöne ist, dass auch in diesen Unterhaltungen die eigene Meinung gefragt ist, die sich auf die Loyalität auswirken kann. Zudem bekommt man nur hier Informationen über frühere Kriege oder Geschehnisse, die man wiederum nur dann in späteren Gesprächen für seine Zwecke einsetzen kann. Sprich: Das Drehbuch ist wunderbar verknüpft, aktives Lesen wird belohnt!
Was kann in Extremfällen passieren? Ein Gefährte kann seine Treue aufkündigen oder angreifen! Außerdem darf man die Fraktionen nicht vergessen: Gegen wen man in Schlüsselsituationen kämpft oder wer da plötzlich eine Mauer magisch einreißt, liegt an der Art, wie man vorherige Quests gelöst hat. Man schafft sich Feinde oder Verbündete, wird verraten oder unterstützt. Aufgrund der Dichte dieser Situationen lohnt es sich hier viel eher als in den sonst so langatamigen epischen Rollenspielen, nochmal von vorne zu beginnen, um sich z.B. komplett auf die Seite des chaotisch bösen Chors zu schlagen – der Wiederspielwert ist hoch.
Tyranny ist kein rasanter Lückenfüller: Zwar ist das Drehbuch spürbar auf Konflikt ausgelegt und die Story wächst nicht so harmonisch mit den eigenen Entscheidungen wie etwa in The Age of Decadence, aber dafür spitzt sich die Lage so zu, dass man nach etwa sechs bis acht Stunden schon fast glaubt, das Finale würde eingeläutet – nur um dann erfreut festzustellen, dass sich die Welt erneut öffnet, man Herr über ein Gebäude samt neuem anheuerbaren Personal wird und auch der außenpolitische Druck eine ganz andere Dimension einnimmt. All das ist erzählerisch lobenswert, aber dafür lässt das Spieldesign an anderen Stellen einiges an Potenzial liegen und bietet zu viel Überflüssiges im Sammel- und Erkundungsbereich.
Ich hole Tyranny gerade nach und finde es zutiefst bedauerlich, dass es vergleichsweise untergegangen ist.
Normalerweise spiele ich in solchen Titeln eher den 0815 chaotisch guten Dude von nebenan, aber hier setze ich Kyros' gottverdammtes Gesetz durch, teilweise sogar mit völliger Überzeugung und maximaler Inbrunst, denn irgendjemand muss diese starrsinnigen, von vermeintlicher Ehre besessenen Stufenbewohner ja vor der endgültigen Auslöschung bewahren.
Dass ich, um den Krieg zügig zu beenden, dabei mit noch starrsinnigeren, recht faschistoiden Fanatikern paktiere (und mir insgeheim die Option offen halte, dieses Bündnis bei Bedarf zu brechen), ist nur Mittel zum größeren Zweck.
Grandios! Mehr davon!
Da sind mir die recht lahmen Kämpfe und die Loot-Langeweile auch relativ wumpe. Man stelle sich nur vor, mehr Budget würde in Entscheidungsfreiheit bei Dialogen und daraus resultierende Konsequenzen gepumpt anstatt in raytracing und ähnlichen Klimbim...
Ich habe Tyranny durchgespielt und fand die Geschichte meisterhaft. Tatsächlich ist es meiner Meinung nach gar nicht möglich, eine so fesselnde Geschichte zu erzählen, wenn ausufernde Nebenquests oder endloses Schlachtgetümmel den Faden ständig wieder abreißen lassen. Wo vielleicht noch etwas mehr gegangen wäre, sind die Zwiegespräche der Party. So etwas wie: "Nicht so laut Du wandelndes Belagerungsgerät. Es besteht überhaupt kein Grund sich übereilt in den Kampf zu stürzen." Lyra zu Barik. Davon hätte ruhig mehr kommen können, Mit anderen Worten, ich hätte gern noch mehr Text gehabt. Gerade weil Obsidian diesen Punkt bei NWN2 zum Beispiel sehr gut hinbekommen hat. (Dafür war der Plot dort nur gut verpackter Standard).
Die Kämpfe waren tatsächlich weniger spannend und immer etwas hölzern. Am Anfang sind es immer 4 Gegner, später 5 und noch später auch mal 6. Schöner wäre es gewesen wenn mal richtig viele (aber dafür schwächere Gegner aufgetaucht wären) oder anderweitig mehr Abwechslung geherrscht hätte. Z.B. durch die Einbeziehung von Sichtlinien. Lediglich die Geister haben eine kurze Veränderung der Angriffstaktik erfordert. Im allgemeinen kommt man sonst mit ein und der selben Taktik durch. Ich habe bei Halbzeit auf schwer umgestellt, das hat auch keine wirkliche Herausforderung gebracht. Naja, spannende Kämpfe und spannende Story in einem Spiel sind vielleicht zu viel erwartet.
Nach dieser Erfahrung und dem vollständigen Lesen dieses Threads werde ich mir wohl planescape torment bei gog kaufen müssen,
Ist halt komisch, mit vielem was du schreibst über IE hast du vollkommen recht, trotzdem machen die Kämpfe mehr Spass. Hast sogar vergessen, dass man sich als Magier unverwundbar machen konnte wenn ich mich recht erinnere (in BG2 ohne mods). Super toll war die IE wirklich nicht. Wünsche mir immer noch ein Spiel wie PoE oder Tyranny mit den Kampfmechaniken von PoEE.
Danke, ich werde dann White March definitiv mal versuchen.